DRK-Jahresempfang: "Ehrenamt ist der Kitt unserer Gesellschaft"
Zum neunten Jahresempfang des DRK Fulda in der Aula der Alten Universität am 9. Mai 2019 war der ehemalige Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière als prominenter Gastredner geladen und sprach über die Wichtigkeit des Ehrenamts für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Mehr als 130.000 ehrenamtliche Stunden und über 21.000 Einsätze sind im letzten Jahr im DRK-Kreisverband geleistet worden.

Sehr geehrter Herr Präsident,
lieber Herr Prof. Hessmann,
sehr geehrter Herr Vorstandsvorsitzender,
lieber Herr Schwab,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Wingenfeld,
sehr geehrter Herr Bürgermeister Wehner,
liebe Mitarbeiter und Unterstützer des DRK Fulda,
sehr geehrte Vertreter der Polizei, der Kirchen und der Wissenschaft,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
wenn man als Festredner zu einem Jahresempfang eingeladen ist, dann werden meistens zwei Dinge von einem erwartet:
- erstens, dass man den Anwesenden für ihre Arbeit und für ihre Teilnahme an der Veranstaltung dankt.
- und zweitens, dass man feststellt, dass das aktuelle Jahr ein ganz besonders gutes und erfolgreiches wird.
Diese Erwartungen werde ich heute enttäuschen.
Erstens nämlich gilt mein Dank heute nicht so sehr den Anwesenden, sondern viel eher denen, die nicht hier sind.
- weil sie gerade als Notarzt oder Rettungssanitäter im Einsatz sind,
- weil sie sich gerade um die Bewohner von Alten- und Pflegeheimen kümmern,
- weil sie gerade im Kindergarten die Spielsachen zusammenräumen,
- oder aus vielen ähnlichen Gründen.
All denen also, die in diesem Moment ihren wichtigen Dienst tun, während wir hier feiern. Ihnen möchte ich genau dafür zuallererst Dank sagen.
Und zweitens muss ich gestehen, dass ich das Jahr 2019 bisher als ziemlich durchschnittlich empfinde. Mir fällt nicht viel ein, was dieses Jahr zu einem wirklich ganz besonderen macht.
Natürlich: Wir feiern in diesem Jahr den 70. Geburtstag des Grundgesetzes, 30 Jahre Friedliche Revolution und Mauerfall und – das ist an dieser Stelle wichtig noch einmal zu sagen – die Liga der Rotkreuz-Gesellschaften wird 100 Jahre alt.
Wir haben die Europawahl vor der Tür und Kommunal- und Landtagswahlen in mehreren Bundesländern. Wiederkehrende Wahlen sind in einer Demokratie aber auch nichts Besonderes, sondern der Normalfall.
Fulda feiert in diesem Jahr auch einige Jubiläen, das haben wir gerade gehört: die Gründung des Klosters, die Weihe der Ratger Basilika, die Beisetzung von Konrad I. und die Verleihung des Münz- Markt- und Zollrechts.
All das sind wichtige Dinge, keine Frage. Aber die Geburtstage betreffen eher die Vergangenheit.
Wir Deutschen sind ja Weltmeister im Erinnern, wir verstehen uns prächtig darauf, Ereignisse unserer Geschichte zu würdigen und fein säuberlich zu analysieren.
Das ist auch angemessen und wichtig. Nicht, dass ich hier missverstanden werde.
Aber was mir da manchmal fehlt, ist der Blick nach vorn. Also die Frage, was wir aus unserer Geschichte für die Zukunft lernen können und ableiten wollen.
Und auch sonst ist das Jahr 2019 aus meiner Sicht eben bisher kein besonderes. Wir arbeiten im Bundestag und anderswo zwar unablässig an neuen Dingen, aber so wirklich wegweisend – oder besser: zukunftsweisend – ist wenig davon.
Wobei wir, das möchte ich hier ausdrücklich sagen, alle zusammen noch genug Gelegenheit haben werden, das zu ändern.
Das mag für sie jetzt alles sehr nüchtern und pragmatisch klingen. Keine großen und salbungsvollen Worte. Eigenartig für einen Festredner.
Passt ja gar nicht zu einem Jahresempfang, werden manche denken. Und stimmt ja eigentlich auch.
Aber es passt aus meiner Sicht zur aktuellen Stimmungslage in unserer Gesellschaft. Genauer gesagt: Es ist genau das, was ich derzeit an vielen Stellen vermisse – Nüchternheit und Pragmatismus, weniger Übertreibungen und mehr Differenzierung.
Wissen Sie, mir ist in unserer Gesellschaft heute vieles zu übertrieben: übertrieben laut, übertrieben schön, übertrieben schlecht:
- Wenn wir Neujahrs- oder Jahresempfänge feiern, soll das immer eine Sternstunde sein, von der Großes und Neues ausgeht. Das ist jedenfalls die Erwartung.
- Wenn wir in diesem Jahr etwas besser oder anders machen wollen als im letzten Jahr, dann ist das gleich ein Paradigmenwechsel, eine Zeitenwende oder eine neue Grundsatzstrategie. So wird es jedenfalls verkauft.
- Und wenn wir sagen, vieles ist gut und manches soll so bleiben, wie es ist, dann ist das Abgehobenheit und Rückwärtsgewandtheit. So jedenfalls der Verdacht.
Ich finde, diese ständigen Übertreibungen tun unserer Gesellschaft nicht gut. Wenn in der Musik nur fortissimo gespielt wird, geht das den Zuhörern auf Dauer auf den Geist.
Und genau wie in der Musik bringt zu viel Übertreibung auch eine Gesellschaft aus dem Gleichgewicht, weil alles nur noch zwischen Extremen schwankt.
Und da ist in letzter Zeit etwas sprichwörtlich aus dem Lot – oder sollte ich sagen: aus dem Takt – geraten in unserer Gesellschaft, was nicht nur den Dialog, sondern auch den Zusammenhalt schwächt.
Und das kann man auch ganz direkt im Alltag sehen:
- Wenn jemand eine andere Meinung vertritt, ist das für manche gleich mal ein Verräter.
- Wenn etwas der eigenen Meinung widerspricht, ist das für manche gleich eine dreiste Lüge.
- Wenn jemanden ein Gerichtsurteil nicht gefällt, ist das ein Skandal des Rechtsstaats.
- Wenn jemand mal eine weibliche Bezeichnung vergisst, ist er gleich ein Macho.
- Wenn jemand von der Polizei kontrolliert wird, ist das heute für manche eine böswillige Belästigung, gegen die man sich wehren muss.
- Und wenn jemand von DRK-Helfern nach einem Unfall behandelt wird, ist das für manche ein körperlicher Angriff, gegen den man sich wehren muss. Meistens mit Worten, oft genug leider auch mit Taten. Manche von Ihnen werden das schon erlebt haben.
Aus meiner Sicht ist all das Ausdruck einer ständigen Übertreibung und ständigen Empörungshaltung in unserer Gesellschaft. Manche sagen gar, Ausdruck eines verloren gegangenen Zusammenhalts oder eines inneren gesellschaftlichen Bruchs.
So weit möchte ich (noch) nicht gehen. Ich glaube schon, dass es in großen Teilen unserer Gesellschaft eine grundlegende Einigkeit darüber gibt, was uns zusammenhält. Was uns als Gesellschaft also „trägt“, wie es im Titel heißt.
Aber berechtigt ist schon die Frage, inwieweit wir diese theoretische Einigkeit auch ganz praktisch in unserem tagtäglichen Zusammenleben noch gelten lassen. Und was das eigentlich genau ist, was uns zusammenhält und was uns trägt.
Mit meinen Thesen für eine „Leitkultur für Deutschland“ habe ich 2017 versucht, genau das auszumachen und zu beschreiben.
Das hat eine heftige Debatte ausgelöst. Schon der Begriff. Um den ging es mir aber gar nicht.
Manche haben dann gesagt: Alles, was für unser Land und unsere Gesellschaft wichtig zu sein hat, steht doch im Grundgesetz. Mehr brauchen wir nicht. Und mehr wäre gefährlich und missverständlich.
Mir ging es aber eben gerade um diejenigen Werte, Traditionen, ungeschriebenen Normen und Verhaltensweisen in unserem Land, die nicht im Grundgesetzt stehen, aber trotzdem gelten – oder jedenfalls gelten sollten.
Um diese mindestens theoretische Einigkeit also, was uns als Gesellschaft ausmacht.
- Dazu gehören für mich zum Beispiel bestimmte Regeln für den Umgang mit Konflikten:
- Dazu gehören Respekt und Toleranz.
- Dazu gehört ganz sicher unsere reiche Kultur.
- Für uns gibt es überhaupt keine gesellschaftliche Rechtfertigung für Gewalt, weder auf der Straße noch in der Sprache.
- Dazu gehört ein jedenfalls im Kern gemeinsames Verständnis von unserer Geschichte – mit ihren Höhen und Tiefen.
Wer das anders sieht, stellt sich außerhalb des Grundkonsens‘ in unserer Gesellschaft. So nenne ich diese grundlegende Einigkeit darüber, wie wir zusammenleben wollen und sollten.
Das hört sich ziemlich banal an. Wenn Sie sich in der Welt umschauen, ist das so banal aber eben nicht.
Und auch schon beim Blick auf Ihren eigenen Alltag werden sich nun einige von Ihnen sicherlich fragen, wie groß diese „große Einigkeit“, dieser Grundkonsens tatsächlich eigentlich noch ist?
Und diese Frage ist völlig berechtigt.
Wenn wir jeden Tag aufmerksam Zeitung lesen – und die meisten von Ihnen werden das sicherlich (noch?) tun –, dann scheint es auf den ersten Blick nicht mehr weit her zu sein mit dieser grundlegenden Einigkeit in unserer Gesellschaft:
- Inner- und außerhalb des Internets wird schamlos gepöbelt, gemobbt und gehetzt.
- Polizisten und Rettungskräfte werden behindert und sogar angegriffen.
- In Fußballstadien wird zügellos gedroht, randaliert und geprügelt.
- Politiker und Journalisten werden beschimpft und beleidigt.
Das alles sind doch aber Beispiele dafür, dass unsere Gesellschaft den inneren Kitt oder den inneren Grundkonsens verloren hat, werden jetzt manche von Ihnen sagen oder denken.
Ich würde eher sagen:
Das alles sind Beispiele dafür, dass wir es in unserer Gesellschaft mit vielen Dingen maßlos übertreiben. Und alle glauben, dabei gerade im Einklang mit diesem Grundkonsens zu stehen.
Auch bei der Analyse sollte man es aus meiner Sicht also nicht übertreiben: Wir stehen nicht unmittelbar vor dem Untergang des Abendlandes. So schnell geht das Abendland, der Westen nicht zugrunde…
Gott uns die zehn Gebote ja auch nicht ohne Grund gegeben. Sondern er hat sie uns gegeben, weil sich nun mal nicht alle Menschen gern an Regeln halten.
Kriminelles oder „abweichendes“ Verhalten, wie es die Soziologie nennt, ist allein noch kein Maßstab dafür, dass in einer Gesellschaft etwas aus dem Lot geraten ist. Es hat solches Verhalten schon immer gegeben und wird es immer geben.
Wenn man sich die Kriminalitätsstatistiken der letzten Jahre ansieht, dann ist die gesellschaftliche „Kriminalitätsbelastung“, wie wir das nennen, alles in allem sogar recht stabil geblieben.
Natürlich gibt es in bestimmten Delikten mal mehr und mal weniger Fälle. Aber alle Straftaten zusammengerechnet, ist das Niveau relativ gleichbleibend, wenn man die Zahl der Fälle und der Täter, also die Quantität betrachtet.
Was sich allerdings verändert hat, ist die Wahrnehmung davon, also die sog. „gefühlte Sicherheit“, und die Intensität. Also die Qualität: Wenn früher einmal zugeschlagen wurde, wird heute dreimal zugeschlagen. Und dann noch gefilmt und ins Internet gestellt.
Ich glaube trotzdem, dass der Grundkonsens in unserem Land schon noch vorhanden ist, vor allem in Krisenzeiten. Erinnern sie sich an die Hochwasser-ereignisse der letzten Jahre. Da liegt nicht das Problem.
Wir sind als Gesellschaft nicht krimineller geworden.
Die übergroße Mehrheit der Menschen achtet auch die Regeln der Ordnung und des Anstands, was sich gehört, und was man darf oder nicht darf.
Aber dort, wo das nicht geschieht, haben wir es heute aber mit einer gesteigerten Intensität zu tun. Mit einer zunehmenden Übersteigerung oder Übertreibung also, wenn Sie so wollen. Da ist das Problem.
Und dieses Problem hat zu tun mit einer Entwicklung, die ich als „Fragmentierung“ unserer Gesellschaft bezeichnen möchte.
Damit ist gemeint, dass sich die verschiedenen Gruppen und Milieus in unserer Gesellschaft zunehmend stärker voneinander abgrenzen und sich und ihre Interessen auch zunehmend stärker gegen andere durchzusetzen versuchen.
All diese Gruppen und Milieus sind zwar nach wie vor Teil ein und derselben Gesellschaft. Aber sie handeln zunehmend nur noch in ihrem eigenen Interesse und interessieren sich weniger für das Interesse der Gesellschaft als Ganzes.
Diese Entwicklung ist freilich auch nicht neu. Dass der Mensch sich eher mit solchen Menschen umgibt, die ihm ähnlich sind, und seine eigenen Interessen schützen will, ist sogar ziemlich banal:
Schon die Französische Revolution fand in einer Gesellschaft statt, in der verschiedene, abgekapselte Schichten mit eigenen sozialen und wirtschaftlichen Interessen existierten, die sie durchsetzen wollten.
Und auch der katholische Lehrer aus dem Sauerland hat früher nur bestimmte Zeitungen gelesen und immer CDU gewählt, so wie der Bergbaukumpel aus dem Ruhrgebiet immer SPD gewählt hat.
Und es gab auch viele streitige Debatten: Denken Sie an die Wiederbewaffnung, die Ostverträge, die Nachrüstung. Da gab es Gewalt, Beschimpfungen und Lagerbildung innerhalb der Gesellschaft.
Gruppenbildung und Gruppeninteressen an sich sind also nichts Neues – neu ist aber die Intensität und die Absolutheit, mit der sich gesellschaftliche Gruppen gegen andere Gruppen abgrenzen und nur noch ihre eigenen Interessen vertreten.
Neu ist eine gewisse Selbstermächtigung in dem Sinne, dass die Einzelnen oder einzelne Gruppen nicht oder nicht mehr sagen: Okay, ich finde meine Interessen wichtig.
Sondern dass sie sagen: Meine Interessen sind die Interessen aller. Und wenn die das anders sehen, dann ist am System irgendetwas nicht in Ordnung.
Jede Gruppe, so klein sie ist, kämpft um gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Berücksichtigung nur für ihre eigenen Interessen und Meinungen und damit gegen die Interessen und Meinungen anderer Gruppen.
Und weil die Konkurrenz der viele Gruppen ziemlich groß ist, wird es für die einzelnen Gruppen immer schwieriger, gegenüber den vielen anderen durchzudringen.
Ich beobachte eine Tendenz, deshalb die eigenen Interessen als besonders griffig, als besonders spektakulär und besonders wichtig darzustellen.
Sie werden mit viel Lautstärke, viel Polarisierung und viel Aufregung inszeniert, um Aufmerksamkeit zu erzielen und sich von den vielen anderen Interessen und Forderungen abzusetzen.
Das funktioniert am besten, wenn man sich gut organisiert und Verbündete gewinnt. Also sucht man die Gefolgschaft im Internet und in den sozialen Netzwerken, wo man sich gegenseitig seiner eigenen richtigen und wichtigen Interessen versichert.
Man nennt das „Echokammer-Effekt“. In einer engen Kammer ist das Echo besonders groß. Stimmungen verstärken sich dann und schaukeln sich hoch.
Aufmerksamkeit gewinnt man auch, wenn man vor möglichst negativen Folgen warnt, die eintreten würden, wenn das eigene Anliegen nicht ernst genommen würde. Dann wird gern so getan, als drohe eine gesellschaftliche Krise oder Katastrophe.
Je lautstärker eine gesellschaftliche Gruppe aber etwas einfordert, umso lautstärker wird eine andere gesellschaftliche Gruppe gerade das ablehnen.
Und so entsteht eine sich selbst antreibende Spirale der ständigen Überhöhung und Übertreibung.
Nach meiner Wahrnehmung hat diese Entwicklung vor allem mit zwei Ursachen zu tun, die natürlich eng miteinander zusammenhängen:
- erstens der Individualisierung unserer Gesellschaft,
- und zweitens dem Bedeutungsverlust gesellschaftlicher Institutionen.
Viele andere Ursachen mögen hinzukommen.
Zunächst zum ersten Punkt, der Individualisierung:
In unserer offenen und modernen Gesellschaft hat jeder Einzelne – auch dank des Internets – heute ein Höchstmaß an Möglichkeiten. Wir sind immer weniger und immer seltener auf Schützenhilfe durch die Gesellschaft angewiesen.
Ob Bildung, Beruf, Familie, Gesundheit, Glaube und so weiter und so fort – nichts ist mehr vorherbestimmt oder in Stein gemeißelt, wir können als Individuum alles selbst beeinflussen und mitgestalten.
Jeder hat die fast grenzenlose Chance zur Selbstverwirklichung. Unsere Gesellschaft macht es scheinbar jedem möglich, ganz seine eigenen Entscheidungen zu treffen und ganz seinen eigenen Interessen nachzugehen.
In den sozialen Medien finden wir heute für alle Vorlieben und Interessen eine Plattform: für Kleidung, für Handys, fürs Essen, für die eigene Gesundheit und den Hausbau, für die Gartenpflege und so weiter.
Und scheinbar wissen wir auch alles. Sozusagen im Wikipedia-Modus.
Das ist natürlich zunächst eine gute Nachricht. Denn es schwächt Abhängigkeiten und stärkt Selbsthilfe-kräfte in der Gesellschaft, es weckt Kreativität und Unvoreingenommenheit. Darüber sollten wir uns freuen und dafür sollten wir dankbar sein.
Aber auch hier gilt:
Wir dürfen es mit der Selbsterkenntnis, Selbstgewissheit und Selbstverwirklichung nicht übertreiben.
Das Ausleben der eigenen Individualität hat dort Grenzen, wo das auf Kosten anderer Individuen oder zu Lasten der Gesellschaft geht. Oder wo es jedenfalls wichtiger genommen wird als das, was um den Einzelnen herum passiert.
Wenn Youtuber meinen, die Selbstdarstellung ihres Lebens und ihrer Meinungen, so radikal sie auch seien, sei das unantastbare Privileg ihrer freien Persönlichkeitsentfaltung und Meinungsfreiheit, dann ist auch das eine Überhöhung und Übertreibung.
Und wenn umgekehrt ein solcher Youtuber oder Influencer, der Schminktipps oder Ratschläge zur Verbesserung der eigenen Lebenssituation gibt, für viele mehr Vorbild ist und mehr gilt als ein DRK’ler, der Leben rettet, dann ist das ein Problem, finde ich.
Die sozialen Medien suggerieren uns jeden Tag aufs Neue, das eigene Wohlbefinden und die eigene Selbstverwirklichung seien das Höchste und Beste. Und sie seien im Internet einfach per Klick zu „kaufen“ oder abzurufen.
Und deshalb begeben sich viele nur umso lieber in die Gesellschaft derer, die genau das gleiche denken, fühlen und wollen wie wir – und meiden diejenigen, die es ganz anders sehen.
Das ist dann übrigens in Wahrheit nicht Selbstverwirklichung, sondern nur eine andere Form von Abhängigkeit.
Und das Internet schafft genau diesen Raum, wo wir ungestört von anderen Meinungen und Interessen ganz konzentriert den eigenen Meinungen und Interessen nachgehen können.
Viele verbarrikadieren sich so in ihrer eigenen Welt. Und alles andere wird ausgeklammert. Sie schließen sich also in kleinen Gruppen mit maximaler Übereinstimmung und Einheitlichkeit zusammen. Und sie schließen sich darin quasi ein.
Und je mehr das geschieht, je weniger unser Leben von außen beeinflusst ist, umso mehr büßen andere gesellschaftlichen Orte, wo Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammentreffen, an Bedeutung ein.
Das ist die zweite Ursache, die ich für die Fragmentierung in unserer Gesellschaft ausmache.
Ob
- das DRK und die Feuerwehren,
- die christlichen Kirchen,
- die Gewerkschaften,
- Verbände
- große Unternehmen,
- die politischen Parteien,
- Sozialvereine,
- große Sportvereine
- usw…. –
Alle diese gesellschaftlichen Kristallisationspunkte, an denen sich jung und alt, arm und reich, rechts wie links begegnen und austauschen, kämpfen seit Jahren mit einem Schwund an Mitgliedern oder einem Schwund an Autorität.
Oder Beides. Und das ist nicht etwa eine Folge der allgemeinen demografischen Entwicklung. Skandale tun dann ihr Übriges…
Der Mitglieder- und Autoritätsschwund führt dazu, dass diese gesellschaftlichen Instanzen gerade in ländlichen Regionen zunehmend aus der Fläche verschwunden sind oder in Städten ihre Wirkung, ihre Reichweite verlieren.
Mit dem Verlust an Mitgliedern und Autorität geht also gewissermaßen auch ein Verlust an gesellschaftlichen Strukturen und gesellschaftlicher Stabilität einher.
Und je kleiner die Zahl und geringer die Kraft gesellschaftlicher Institutionen wird, desto schwieriger wird es auch, für Ausgleich und Vermittlung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu sorgen.
Denn Ausgleich und Vermittlung – man kann auch sagen Kompromissbildung – ist natürlich eine zentrale Leistung von Institutionen in pluralistischen Gesellschaften.
Der gemeinsame Austausch oder Diskurs mit anderen Gruppen bleibt dabei auf der Strecke. Und damit auch die Fähigkeit zur Kompromissbildung, also zum Ausgleich verschiedener Interessen.
Wenn einer Gesellschaft diese Fähigkeit aber abhanden kommt, wenn wir es mit unseren individuellen Einzelinteressen übertreiben, dann wird der Grundkonsens schleichend in den Hintergrund gedrängt.
Es gibt diesen Grundkonsens, die gemeinsamen Werte und Normen zwar theoretisch noch und es gibt sie eben vor allem im Krisen. Aber im Alltag verlieren sie an Bedeutung. Schon allein dadurch, dass wir uns immer weniger auf sie berufen wollen und müssen.
Deshalb möchte ich dafür werben, wieder stärker und aktiver an einem solchen Grundkonsens zu arbeiten. Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass er sich schon irgendwie einstellen wird. Und das kann vor allem nicht die Aufgabe von Politik allein sein.
Politik kann Engagement, Höflichkeit, Respekt, Ausgleich und Maß – oder eben auch Nüchternheit – nicht verordnen. Allenfalls vorleben und praktizieren. Obwohl auch das Institutionen wie dem DRK besser gelingt als einem Parlament oder einer Regierung.
Wir alle müssen deshalb Initiative ergreifen und diesen Grundkonsens immer wieder aufs Neue aushandeln und austarieren, erstreiten und verteidigen. Und deshalb ist die heutige Veranstaltung, wo wir genau darüber sprechen und im Anschluss gern auch noch diskutieren wollen, so wichtig.
Ihr Engagement im DRK lebt genau solche Werte, Normen und Tugenden vor, für die wir in unserer Gesellschaft wieder ein größeres und vor allem breiteres Bewusstsein und ein aktiveres Bekenntnis brauchen.
Und deshalb ist zum Beispiel der Vorschlag für eine allgemeine Dienstpflicht für junge Menschen so diskussionswürdig. Denn auch das kann ein Beitrag zur Stärkung unserer gesellschaftlichen Institutionen sein.
Sie wissen, dass ich persönlich Begriffen wie Dienst und Pflicht recht offen gegenüberstehe, und sie für mich immer eine wichtige Rolle gespielt haben.
Ich stehe daher auch einer allgemeinen Dienstpflicht grundsätzlich offen gegenüber. Mindestens mal einer Debatte darüber.
Eine solche Dienstpflicht wirft gewichtige verfassungsrechtliche Fragen auf. Das möchte ich jetzt nicht näher ausführen.
Mir persönlich wäre es allemal lieber, junge Menschen würden sich freiwillig und aus eigenem Antrieb heraus stärker gesellschaftlich engagieren.
Anstatt dass wir sie dazu zwingen müssten, anstatt dass wir uns mit allerlei Ausreden und Attesten herumschlagen müssten, warum jemand nicht will oder kann.
Wenn man sich die Begeisterung vieler junger Leute für den Umwelt- und Naturschutz, für den Sport und anderes mehr anschaut, dann scheint ja noch Hoffnung zu bestehen.
Lassen Sie uns also darüber nachdenken, ob wir nicht mehr für die Attraktivität der gesellschaftlichen Institutionen und des gesellschaftlichen Engagements tun können. Mit dem gleichen Ziel wie mit der Dienstpflicht.
Lassen Sie uns darüber nachdenken, ob wir nicht mehr Menschen aus unterschiedlichen Gruppen wieder zusammenbringen können.
Und lassen Sie uns damit gleich heute, gleich hier und jetzt anfangen.
Ich möchte Ihnen dafür ein paar Beispiele nennen:
- Warum tun wir eigentlich so, als müsse jedes Ehrenamt einem höheren, altruistischen Zweck dienen?
Wenn man jemanden fragt, warum er beim DRK oder beim THW mitmacht, erwarten viele immer, dass er sagt: Ich möchte Menschen helfen und das Leben besser und sicherer machen. Und das ist schwer und mühselig und kostet Freizeit. Das ist natürlich sehr ehrenwert.
Aber reicht es im Zweifel nicht auch, wenn jemand einfach nur Spaß an der Arbeit mit alten Menschen oder an Technik hat? Und daraus dann Verlässlichkeit, Verbindlichkeit und Freundschaft entsteht?
Man könnte auch sagen:
Lassen Sie es uns mit den Gründen und Erwartungen, warum sich jemand für die Gesellschaft engagiert, auch nicht übertreiben.
Gesellschaftliches Engagement vor Ort muss nicht immer gleich dem Weltfrieden dienen.
- Oder warum überschütten wir Ehrenamtliche manchmal mit so viel Bürokratie und Formalien, dass das Ehrenamt eher Frust statt Lust verursacht? – Übrigens nicht nur von Seiten des Staates, sondern auch der Institutionen selbst!
Wenn jemand gern organisiert, und er deshalb im örtlichen Sportverein das Sportfest planen möchte, dann sagen manche Vereine ihm:
Du musst aber trotzdem in eine Mannschaft gehen und dann beim Training und bei Wettkämpfen mitmachen. Das verlangt unsere Satzung.
Wäre nicht schon etwas gewonnen, wenn jemand nur eine bestimmte, vielleicht auch kleine Aufgabe in einer Institution oder Organisation übernimmt, die dann aber wirklich gut?
Arbeitsteilung hat auch im Ehrenamt ihre Vorzüge, und Ehrenamt lebt vor allem davon, dass wir es mit Voraussetzungen und Vorbedingungen dafür wiederum nicht übertreiben.
- Oder warum kann bei der Studienplatzvergabe oder bei der Einstellung von Mitarbeitern neben der fachlichen Qualifikation, die natürlich entscheidend sein muss, nicht auch das gesellschaftliche Engagement mit einbezogen werden?
Ich finde es nicht falsch, wenn sich eine Hochschule bei zwei Studienanwärtern, die die gleiche Eignung haben, bewusst für denjenigen entscheidet, der nebenbei noch Übungsleiter ist.
Das sind nur ein paar Beispiele, wie wir unsere gesellschaftlichen Institutionen stärken können, ohne Druck und Zwang auszuüben.
Denn dass wir gesellschaftlichen Institutionen brauchen, muss ich Ihnen beim DRK nicht erklären. Auch eine heterogene und individualisierte Gesellschaft braucht gemeinsame Orte, eine gemeinsame Idee und gemeinsam getragene Institutionen.
Nur weil an jeden Einzelnen gedacht ist, ist eben nicht an alle, nicht an die Gesellschaft im Ganzen gedacht.
Jean-Jacques Rousseau stellte schon vor 250 Jahren die These auf, dass der Gemeinwille, also das Bewusstsein für das, was das Gemeinwohl ausmacht, mehr sei als die Summe aller Einzel- und Minderheiteninteressen.
Wir sollten uns wieder mehr an diese These erinnern und sie versuchen ins Praktische zu übersetzen.
Und wir sollten versuchen, das mit Ruhe und mit einer gewissen Nüchternheit zu tun.
Um es anders zu sagen:
Wir sollten es mit Übertreibungen nicht übertreiben, weder in die eine noch in die andere Richtung.
Und das bedeutet eben: Nicht jeder Fehler ist ein Skandal. Nicht jedes Problem ist eine Katastrophe. Und nicht jede unzureichende Problemlösung ist gleich eine Affäre.
Und umgekehrt aber ist nicht jede neue Idee gleich ein Paradigmenwechsel. Und nicht jede neue Situation ist eine Zeitenwende.
Wir sollten daher wieder lernen, den richtigen Ton und – vielleicht noch wichtiger – die richtige Betonung zu treffen.
Ich hoffe, dass mir dies in meiner Rede gelungen ist.
Wenn heute aus Fulda ein solcher Impuls für mehr Nüchternheit, mehr Ausgleich und mehr Gemeinsinn ausgeht, dann ist das durchaus etwas, was dieses Jahr 2019 zu etwas Besonderem machen könnte.
Jedenfalls bin ich dankbar, dass es mit Einrichtungen wie dem DRK und natürlich auch anderen – den Feuerwehren, dem THW und vielen mehr – noch solche gesellschaftlichen Institutionen gibt, bei denen das Gemeinsame und Verbindende im Vordergrund steht, nicht das Einzelne und Trennende.
Warten wir nicht, warten Sie nicht, bis 2019 zu einem besonderen Jahr wird. Fangen Sie, fangen wir alle damit an!